Am Samstag, den 8. Oktober 2022 fand bereits zum zweiten Mal die virtuelle Jahrestagung der SoMA Austria statt. Basierend auf den Rückmeldungen der Umfrage vom Frühling haben wir ein Programm erstellt, das sich nach den Bedürfnissen der SoMA Austria Mitglieder richtete – und entsprechend hoch war auch der Zulauf! Wir freuen uns, dass etwa 70 Personen an der Tagung teilgenommen haben – darunter etwa 35 Betroffene bzw. Angehörige. Die Tagung brachte eine gute Mischung aus fachlichem Input und praktischen Informationen.
1. Themenblock: Bowel Management
Wilfried Krois, Kinder- und Jugendchirurg:
Medizinische Aspekte des Darmmanagements
Der Vortrag von Dr. Wilfried Krois beschäftigt sich mit den medizinischen Aspekten des Darmmanagements. Hier erläutert er zunächst die vier Faktoren, die für den Kontinenzapparat relevant sind: Die Sensibilität (die Nerven im Analkanal und die Dehnungsrezeptoren im Rektum), die Kontrolle über die Muskulatur (Sphinkter), korrekte Darmbewegungen und geistige Reife. Er erläutert, dass bei Morbus Hirschsprung (MH) & Anorektaler Malformation (ARM) bzw. durch die Operationen, Muskulatur und Nerven teilweise beeinträchtigt werden und dies sowohl zu Verstopfung als auch zu Stuhlverlust führen kann.
Weiters geht Dr. Krois auf die Kontinenz-Prognose bei Morbus Hirschsprung und Anorektaler Malformation ein. Er spezifiziert die Kriterien, welche bei ARM zu einer guten bzw. schlechten Prognose beitragen, dass aber die Beobachtung der Eltern für die Einschätzung der Prognose wichtig ist. Er erläutert, welche Optionen bei welcher Ausgangssituation sinnvoll sein können – von diätologischen und medikamentösen Maßnahmen über den Einsatz von Hilfsmitteln bis hin zu chirurgischen Möglichkeiten.
Dr. Krois betont, dass das Ziel eines guten Bowel Managements (=Darmmanagement) eine regelmäßige, vollständige und schmerzfreie Stuhlentleerung sowie eine (soziale) Kontinenz ohne „Unfälle“ ist.
Carlos A. Reck-Burneo, Kinder- und Jugendchirurg:
Internationale Modelle für Bowel Management
Dr. Carlos Reck-Burneo stellt in seinem Vortrag unterschiedliche internationale Modelle des Bowel Managements vor. Er erläutert, dass möglicherweise kulturell bedingt, die Akzeptanz mancher Maßnahmen in den Ländern verschieden ist. Etwa wird die Anlage eines Malone Stomas (=operativ angelegtes Spülstoma mit Zugang über die Bauchdecke) in manchen Ländern mehr gewünscht als z.B. in Europa. In den großen Zentren der USA ist es beispielsweise Standard, dass das individuell optimale Bowel Management-Programm im Zuge einer einwöchigen stationären Aufnahme eruiert wird, während in Europa hauptsächlich versucht wird, dies mit ambulanten Terminen zu bewerkstelligen. In Südamerika, Afrika und Asien ist das Vorgehen sehr stark länderspezifisch und die Durchführung von Spülprogrammen ist allgemein weniger akzeptiert und daher zumeist schwierig. Auch die Wahl der Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente divergiert international stark.
Internationale Einigkeit kann Dr. Reck-Burneo bei der Frage ausmachen, dass der Leidensdruck der Patient:innen zumeist sehr hoch ist, dass die Dosierung der Medikamente sehr individuell ist und dass es keine einheitliche Lösung gibt, die für alle funktioniert. Daher ist es notwendig, für alle Patient:innen eine maßgeschneiderte und auch kulturell verträgliche Lösung zu finden.
Dr. Reck-Burneo betont abschließend, dass eine gute Operation noch nicht ausreichend ist, sondern dass alle Patient:innen eine strukturierte kontinuierliche Nachsorge benötigen und dass das beste System stets jenes mit der geringsten psychischen Belastung und der bestmöglichen Wirkung für die Patient:innen ist.
Geduldig und kompetent beantworten Dr. Reck-Burneo und Dr. Krois die vielen Fragen der Teilnehmer:innen. Hier zeigt sich ganz deutlich der hohe Bedarf an persönlicher Beratung und einer strukturierten Nachsorge.
2. Themenblock: Was gibt es Neues?
Katharina Mörwald, Kinder- und Jugendfachärztin:
Der Leuwaldhof Reha für Kinder und Jugendliche mit ARM und MH
Drin. Katharina Mörwald stellt den Leuwaldhof vor. Bei einem Aufenthalt im Kinder- und Jugendreha-Zentrum „Leuwaldhof“ können betroffene Kinder und Jugendliche und auch ihre Begleitpersonen drei Wochen lang Kraft und Zuversicht tanken. Der Reha-Aufenthalt beinhaltet täglich ca. 2,5h Therapieeinheiten für die Kinder und Jugendlichen. Die jüngeren Kinder sind im Reha-Kindergarten bestens betreut, während die Heilstättenschule in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Heimatschule den Unterricht für die älteren Kinder übernimmt. Nachmittags-Angebote durch die Freizeitpädagog:in runden das Programm ab.
Für Eltern und Geschwisterkinder sind keine Therapieangebote vorgesehen. Wenn diese gewünscht sind, sollten sie bereits zum Zeitpunkt der Antragsstellung direkt beim Leuwaldhof gebucht werden und müssen auch selbst bezahlt werden. Jugendliche können auch schon allein auf Reha fahren, sind vor Ort bestens betreut und können von einem Aufenthalt enorm profitieren.
Der nächste Turnus mit SoMA Austria-Schwerpunkt findet vom 6.-24. Februar 2024 statt. (Anmeldeschluss ist März 2023!) Wenn es gut begründet und mit der zuständigen Kasse abgeklärt wird, besteht auch die Möglichkeit, von Deutschland aus eine solche Schwerpunkt-Reha in Österreich zu beantragen. Informationen zur Antragsstellung unter https://soma-austria.at/termine/leuwaldhof-turnus-fuer-arm-und-mh/
Achtung: Eine genaue Formulierung des Reha-Ziels bei Antragstellung ist für die Planung sehr hilfreich! Im Zweifelsfall darf der zuweisende Arzt gerne mit dem Leuwaldhof in Kontakt treten.
Schwerpunkt Anorektale Malformation (ARM)
Eva Amerstorfer, Kinder- und Jugendchirurgin:
ARM international: Entwicklung europäischer Netzwerke und Forschung
Drin. Eva Amerstorfer spricht über die neuesten Entwicklungen in der internationalen Vernetzung und der Forschung zu Anorektalen Malformationen. Sie stellt zunächst die europäischen Netzwerke eUROGEN, ERNICA und das ARM-Net vor, weiters das US-Amerikanische Hendren Project (von Alberto Peña und Andrea Bischoff geleitet) sowie das Netzwerk cureforu – eine internationale Kooperation. Weiters stellt Drin. Amerstorfer noch andere Chirurgische Konferenzen und Gruppen wie den Pediatric Colorectal Club, den Pediatric Colorectal and Pelvic Reconstruction Workshop vor, die sich intensiv mit Anorektalen Malformationen befassen.
Anschließend zeigt Drin. Amerstorfer Ausschnitte aus den neuesten Erkenntnissen der internationalen Forschung. Etwa gibt es verschiedene Ansätze auf der Suche nach schonenderen und minimalinvasiveren Operationsmethoden (=Operation mit kleinstmöglicher Verletzung von Gewebe), die den Heilungsprozess beschleunigen würden, Bougierungen seltener nötig machen und die allgemein einen besseres Outcome zeigen würden. Drin. Amerstorfer betont hier die Verpflichtung der Kinderchirurg:innen, ihre Techniken stets zu hinterfragen.
Zudem gibt Drin. Amerstorfer Einblicke in den aktuellen Stand der Forschung zur Frage der Lebensqualität der Betroffenen. Interessant ist hier die Betonung auf die Faktoren „Selbstwirksamkeit“ und „Selbstbewusstsein“: Grundlage ist, dass die Betroffenen multidisziplinär optimal versorgt sind. Wenn Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre Erkrankung kompetent managen können, ist dies ein Zugewinn an Lebensqualität.
Christa Schimke, Kinder- und Jugendchirurgin:
Urologische Betreuung: Funktionsdiagnostik, Nachsorge, Therapie
Über urologische Begleiterkrankungen bei Anorektalen Fehlbildungen spricht Drin. Christa Schimke in einem äußerst informativen Fachvortrag. Zunächst erläutert sie die Ziele einer professionellen Behandlung und Nachsorge von urologischen Begleiterkrankungen bei ARM: 1. Frühzeitige präzise Diagnosestellung, 2. Chirurgische Rekonstruktion der betroffenen Organe, 3. (sozial) kontinente Stuhl- und Harnentleerung sowie 4. Schutz der Nierenfunktion. Drin. Schimke erläutert die assoziierten urologischen sowie die strukturellen Anomalien bei ARM und erklärt die häufigsten Fistelformen bei Jungen und Mädchen.
Im zweiten Teil ihre Vortrags spricht Drin. Schimke über die Funktionsdiagnostik bei Anorektalen Malformationen. Hierzu erläutert sie zunächst die Funktionen des unteren Harntrakts und geht anschließend auf das Abklärungsschema nach Empfehlungen der Internationalen Inkontinenzgesellschaft für Kinder ein. Anschließend erfahren wir, welche Behandlungsmöglichkeiten es bei neurogener Blasenentleerungsstörung gibt und welche, je nach individuell vorliegender Problematik, in Frage kommen: Von intermittierendem Selbstkatheterismus über Botox-Injektionen bis hin zu operativen Optionen, wie der Blasenaugmentation oder der Anlage eines katheterisierbaren kontinenten Stomas (Mitranoff-Stoma).
Drin. Schimke legt besonderen Wert auf die Feststellung, dass regelmäßige und vor allem langfristige Nachsorgeuntersuchungen zum Schutz der Nierenfunktion und zur Optimierung der Lebensqualität jedenfalls erforderlich sind.
Christian Auer, Neurochirurg:
Tethered Cord
Dr. Christian Auer gibt in seinem Vortrag einen spannenden und praxisnahen Einblick in das Krankheitsbild „Tethered Cord“ (=angeheftetes Rückenmark), welches bei 36% der Patient:innen mit ARM begleitend auftrete. Er erklärt die unterschiedlichen Ausprägungen von Tethered Cord (Myelomeningocele, Spinale Lipome, Fatty Filum, Split cord malformation, Dermalsinus mit Tract, Occultes Tethered cord). Fatty Filum ist eine eher milde und die häufigste Form des Tethered Cord während das Occulte Tethered Cord zur medizinisch schwierigsten Gruppe zählt. Er erläutert, welche Folgen ein Tethered Cord haben kann und legt dar, dass der natürliche Verlauf der Erkrankung zumeist höchst unklar ist und Symptome, die bereits aufgetreten sind – etwa Bewegungseinschränkungen – auch mit einer OP meistens nicht mehr reversibel (=umkehrbar) sind. Dies gilt allerdings für Blase und Darm nicht unbedingt – hier bessern sich die Beschwerden teilweise durchaus noch, wenn das Tethered Cord korrigiert wurde. Daher ist bei leichten Formen des Tethered Cord eine präventive Operation häufig durchaus sinnvoll, um Morbiditäten zu vermeiden, während bei komplexen Formen mit hohem operativem Komplikationsrisiko eher zugewartet und regelmäßig kontrolliert wird, da vermieden werden soll, dass Menschen operiert werden, die möglicherweise nie Symptome entwickeln würden und trotzdem unter den Komplikationen der OP leiden. Dr. Auer betonte abschließend, dass Tethered Cord nur in einem spezialisierten Zentrum operiert werden soll und dass eine multidisziplinäre Versorgung der Patient:innen ein Muss ist.
3. Themenblock: Leben mit MH und ARM
Ursula Sinnreich, Kinder- und Jugendpsychiaterin:
Resilienz – Herausforderungen des Lebens bewältigen
Drin. Ursula Sinnreich erläutert in ihrem Vortrag zunächst, was Resilienz (= psychische Widerstandskraft) ist und welche Faktoren dazu beitragen, dass Menschen Resilienz entwickeln können. Auch die Selbsthilfe ist eine Form der Resilienz, da Eltern bei ARM/MH Expert:innen für ihre Kinder und deren Fehlbildung sein müssen und die Selbsthilfe eine Möglichkeit ist, in die Selbstwirksamkeit zu gehen. Drin. Sinnreich erklärt, dass nicht alle Kinder mit Entwicklungsrisiken (z.B. angeborene Fehlbildungen, instabiles Familenumfeld o.ä.) psychologisch auffällig werden. Das stellt die Forschung vor die Frage: Was macht diese Kinder stark? Man fand heraus: Resilienz ist kein Charakterzug, sondern oft auch Ergebnis einer engen, stabilen Eltern-Kind-Beziehung. Daher betont Drin. Sinnreich, wie wichtig die Stärkung der Eltern, v.a. auch in der ersten Phase nach der Diagnosestellung/Geburt ist, denn Eltern, die aufgefangen werden (durch Psycholog:innen, aber auch das erweiterte Umfeld), können ihrem Kind leichter die nötige Stabilität und Sicherheit geben.
Die Risikofaktoren – etwa die angeborene Fehlbildung – sind zumeist nicht äußerlich beeinflussbar, aber sie können durch die Stärkung der positiven Resilienz-Faktoren aufgewogen werden. Schlüsselekompetenzen in diesem Zusammenhang sind: Gefühle erkennen, benennen und regulieren können sowie die eigenen Stärken und Kompetenzen zur Problemlösung einsetzen zu können.
Drin. Sinnreich erklärt das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach E. Erikson und geht anschließend etwas näher auf die Phase der Adoleszenz (= Lebensphase zw. Kindheit und Erwachsenenalter) ein. Durch die intime pflegerische Unterstützung der Eltern ist die Abhängigkeit der Jugendlichen von den Eltern auch in dieser Phase meist größer als bei „gesunden“ Gleichaltrigen – das kann bei der Autonomieentwicklung, Sexualität und Intimität eine Rolle spielen. Ein positives Körperschema und Selbstkonzept können hier schützend wirken, und sollen gestärkt werden. Auch etwa schulisches Engagement kann ein stärkender Faktor sein, wenn das Kind in diesem Kontext soziale Anerkennung erfahren kann.
Drin. Sinnreich betont mehrfach, wie essenziell es ist, Sprache zu fördern – besonders für Kinder mit besonderen Belastungen – und erläutert: Worte finden zu können ist wichtig – Sprache schützt. Idealerweise finden Jugendliche einen sicheren Raum außerhalb des Elternhauses, in dem sie ihre Ängste aussprechen können.
Mein Leben mit Anorektaler Malformation
Michel Haanen, Familien- und Sozialberater, Sexualitäts-Coach
In seinem sehr berührenden, ehrlichen und vor allem ermutigenden Vortrag gewährte Michel Haanen den Teilnehmer:innen der Jahrestagung ausschnittweise Einblicke in sein Leben mit einer Anorektalen Malformation. Schnell wird klar: Die medizinischen Möglichkeiten und der Umgang mit dieser Fehlbildung unterschied sich damals massiv von den heutigen Behandlungsmöglichkeiten. Es macht Mut, dass sich Michel Haanen trotz sehr vieler sehr langer Krankenhausaufenthalte an eine glückliche Kindheit erinnern kann. Es ist sehr bewegend und gleichzeitig inspirierend zu erfahren, welche Schritte er gesetzt hat und wie er seinen Weg gegangen ist, gelernt hat, mit seiner Fehlbildung umzugehen, zu einem positiven Körperbild zu finden, Nähe und Liebe zuzulassen und auch zu geben. Abschließend betont Michel Haanen noch die Rolle der Patientenorganisation, die ein Ort ist, an dem man über alles reden kann, ohne sich zu schämen, wo man nicht viel erklären muss. Er schließt seinen Vortrag mit dem Mutmach-Satz: „Und ich? Ich bin anders durch meine Fehlbildung aber auch gleich wie alle anderen. Und ich will nicht wie andere sein; es gibt davon schon so viele … mich gibt es nur einmal!“
Wir bedanken uns bei allen Referentinnen und Referenten für die großartigen Vorträge und dass sie sich die Zeit genommen haben, unsere Jahrestagung mit Ihrem Fachwissen und persönlichem Input zu bereichern. Schon bei den Vorbesprechungen und Technik-Checks war spürbar, dass es den Redner:innen wichtig ist, die betroffenen Menschen zu unterstützen und sie mit Information zu bemächtigen Entscheidungen zu treffen und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten.
Vielen Dank an das gesamte SoMA Austria-Team für die Planung, Durchführung und Nachbereitung der Jahrestagung und an das Technik-Team Elisa, Jonas und Momo für eure professionelle und geduldige Unterstützung.
Danke den zahlreichen Teilnehmer:innen fürs Dabeisein und die vielen netten Rückmeldungen und Nachrichten. Zu wissen, dass wir euch mit dieser Tagung auf eurem Weg weiterhelfen konnten, bedeutet uns viel und zeigt uns, dass die Arbeit der SoMA Austria wichtig und richtig ist.